Nun, es ist ja schon so, dass es einem passieren kann, dass man einen Kosmos ausgebreitet sieht – und was für einen! Ganz unauffällig verpackt, handlich und praktisch gut… Nennen wir es dann nicht nur ein Buch, nennen wir es in einem solchen Fall eher ein großes Glück.
Daran geschrieben hat der amerikanische Autor, Jonathan Franzen, zehn Jahre seines Lebens. Denkt doch einfach mal zurück an die letzten zehn Jahre eures Lebens. Dann hat jeder für sich eine ungefähre Ahnung, was das bedeutet. Und dann finde ich, klar, oder klarer wird eine Angelegenheit erst dann, wenn man ihrer habhaft wird, sie, wie hier, durch das Schreiben, (be)greifbar machen kann.
Es gibt zu seinem Schreiben eine schöne Selbstbekundung:
„Die wenigste Zeit schreibe ich, das meiste braucht es für die Recherche, Reisen an die Orte des Geschehens und dergleichen und wenn ich dann das Gefühl habe, da ist genügend zusammen, dann schreibe ich in der Regel drauf los. Das ist an sich das Einfachste an der ganzen Sache.“
„Die Korrekturen“ erschien 2001, zuvor war der Autor ein relativ unbeschriebenes Blatt. Danach ein Schriftsteller von uneingeschränkter globaler Geltung. Er hat wenigstens eine ganze Generation von Autorinnen und Autoren überall auf dieser Welt geprägt. Wann immer ein großer, neuer Roman in den nächsten Jahren erschien und die Kritik sich seiner annahm, fiel häufig genug sein Name als Gradmesser für die Bewertungen.
Jede Zeit hat ihre Literatur, sozusagen als aufgeschriebenes Konzentrat ihres Seins. Und wenn ich das so über die Jahrhunderte verfolge, unter der Prämisse unserer westlichen Prägungen, dann kann ich die amerikanische Literatur, zumindest ab der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, als primär stilbildend betrachten. Wenngleich sich diese Gewichtung gerade ein wenig verschiebt, sagt das nicht mehr und nicht weniger darüber aus, welche Macht und welchen Einfluss die USA in der Zeit hatten und immer noch haben, denn die kulturellen Hoheiten sind auch immer die Summe ihrer gesellschaftlichen Vorgänge. Das Präsens hierbei zu bewerten möchte ich aber nicht zum Gegenstand machen, da es ohnedies, gewissermaßen in einer anderen Zeit, die gerade so unendlich fern erscheint, geschrieben wurde.
Was will uns Jonathan Franzen nun in seinem Buch erzählen?
„Nach fast fünfzig Jahren als Ehefrau und Mutter ist Enid Lambert bereit für etwas Spaß. Leider verliert ihr Mann Alfred aufgrund seiner Parkinson-Erkrankung den Verstand, und ihre Kinder haben das Familiennest schon lange verlassen…!“
Wir haben es hier auf diesen knapp achthundert Druckseiten mit einem, im herkömmlichen Sinne betrachtet, klassischen Familienroman zu tun. Allerdings, um es gleich zu sagen, wartet diese Geschichte zugleich mit allerhand familienfeindlichen Ereignissen auf.
Der signifikante Unterschied zwischen Familiengeschichten, die man sich so erzählt, und den Fotos, die dazu gebraucht werden, um verwehte Zeiten wieder sichtbar zu machen, auf der einen -, und einem literarischen Text, der zu seinem Gegenstand die Geschichte einer Familie macht, auf der anderen Seite, ist der Grad seiner Welthaltigkeit. Und dieses Buch beschreibt die Welt in vollen Zügen. Diese kleinen und großen Katastrophen, ohne die wir Menschen nicht miteinander auskommen könnten, geschweige denn, ohne die wir einen treibenden Sinn in unserem Leben sehen würden. Zugleich ist dieser fulminante Roman ein Spiegelbild der weißen Mittelschicht einer amerikanischen Gesellschaft und natürlich nicht nur dieser, die aus sich heraus, zusehends zu erodieren beginnt. All das und noch viel mehr begegnet uns auf eine Art und Weise, die die ganze Bandbreite menschlichen Lebens durchmisst. Die Lektüre ist ein atemberaubender Parforce-Ritt, bei dem man sich beim hastigen Umblättern der Seiten auch schon mal verheddern kann, und bei der sich hin und wieder, da und dort, diese Aha einstellt, wenn man sich wieder einmal selbst entdeckt hat.
Was Jonathan Franzen überzeugend gelingt, ist das Komische, zuweilen in seinen sarkastischen Ausformungen - durchaus! Der Witz, jenes nur scheinbar Leichte, dass immer Zweierlei vereinen sollte, nämlich das Dunkle und das Helle, die Hoffnung und die Tragik, das Menschsein schließlich in seiner ganzen komplexen Erscheinung.
Gerade hier ist er einem seiner Ahnen im Geiste, Thomas Mann, einen kleinen Schritt voraus. Jener war der Meister des ironischen Wortes, diesem polyglotten Verständnis eines weltsicheren Bürgers, der in den Wirrnissen der Zeiten, als er die Salons des Geistes untergehen sah, bestrebt war, die Kulissen dieser Welt in ein ästhetisches Gleichgewicht zu verschieben.
Die Komik aber, wie Jonathan Franzen sie versteht, ist ein Hilfeersuchen von uns Sterblichen im grell ausgeleuchteten, nachhallenden Dasein heutiger Tage.
Die FAZ vermerkte nach Erscheinen des Buches: „Ein Roman, der die Mehrzahl der Leser glänzend unterhält, ohne die Minderheit zu unterfordern…“, und das will ja nun zwischen zwei Buchdeckeln auch erst einmal geleistet sein.
Jonathan Franzen, "Die Korrekturen" Roman, Verlag Rowohlt Hamburg, aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell, Taschenbuch, 784 Seiten, ISBN: 978-3-499-23523-8, Preis: 18,00 €;