„Das Blaue Zimmer“

Georges Simenon war schon zu seinen Lebzeiten legendenumwoben und galt als Mensch wie auch als Autor als sein eigener Kosmos. Es heißt, er wäre in unzähligen Affären, neben seinen beiden Ehen, aus denen drei Söhne hervorgingen, annähernd eintausend (!?) Beziehungen mit anderen Frauen eingegangen, deren illegitime Kinderzahl auf eine unbestätigte Vielzahl fixiert wurde. Er, der aus ärmlichen Verhältnissen stammte, lebte in Villen und Schlössern, liebte teure, extravagante Autos und trank den Champagner bereits zum Frühstück. Er verdiente als meistgelesener Autor des Zwanzigsten Jahrhunderts mit seinen ca. zweihundert Romanen und weiteren fast ebenso vielen Erzählungen, die in sechzig Sprachen übersetzt vorliegen und in einer weltweiten Auflage von fünfhundert Millionen Exemplaren gedruckt wurden, ein Vermögen. Hinzu kamen lukrative Verfilmungen seiner Werke, Theateraufführungen rund um den Globus und, und, und. Und trotzdem, als dieser belgische Autor mit sechsundachtzig Jahren 1989 in Lausanne verstarb, soll er hochverschuldet gewesen sein. Mit anderen Worten, dieser Mann war nicht nur in seinem Schreiben bacchantisch, sondern er hatte auch ebenso gelebt.

Mein Verhältnis zu Simenon entwickelte sich in etwa so, als hätte ich mich auf eine dauerhafte Liebesbeziehung, die das eigene Leben neu definiert, eingelassen. Zuerst geschieht etwas Unbegreifliches, nennen wir es Überwältigung, danach setzt allmählich das Begreifen ein, warum das so ist, wie es ist, nennen wir es Akzeptanz, um dann auf diesem Fundament aufzubauen, nennen wir es Gewissheit. Somit drängeln sich in meinen Regalen viele Romane, allesamt Non-Maigrets, wie er selbst dazu sagte, das sei seine wirkliche, seine „noir-literature“, sein kleines Brevier, „Brief an meine Mutter, zu der er zeitlebens ein angespanntes Verhältnis hatte, und ihr in dieser Form auf ihre lieblose, hartherzige Art und Weise eine Antwort geben musste, sowie seine weit über eintausend Seiten zählende, als Autobiographie geltenden „Intimen Memoiren“. Mithin gehört Simenon für mich zu den wichtigsten Autoren und das nicht nur des Zwanzigsten Jahrhunderts. 

Eine Studie zu seinem Werk kam zu dem Ergebnis, dass sich Simenon auf einen Grundwortschatz von ca. zweitausend Wörtern in seinen Romanen beschränkte. Und seinen eigenen Aussagen folgend, sei mehrheitlich der Wortschatz eines durchschnittlichen Franzosen auf ca. 600 Worte begrenzt. Ohnedies liegt das Geringste im Leben eines Menschen außerhalb ganz lapidarer Tatsachen, so formt sich schließlich die wiederkehrende Abfolge der Tage, Wochen und Jahre zu einem bestimmenden, weil vertrauten Gleichmaß. Ein Ausbruchsversuch aus einem solchen Kreislauf musste jedoch das Interesse eines scharf beobachtenden Autors, wie Simenon es war, wecken. Ohne unnötigen Wortschwall pflegte er dabei einen ausgesprochen nüchternen Stil, lakonisch und beklemmend in seiner lebensnahen Inszenierung. Das Literarische als Kunstform war ihm eher fremd. Er war einzig der Geschichte verpflichtet, die er aufschrieb und bei der er immer wieder als ein gleichsam sezierender Protokollant auftrat. Und - er wollte in seinen Büchern stets den konkreten Zugriff für die Leser auf das Geschriebene haben. Ein Zeitgenosse nannte ihn einmal einen „Poeten des Gewöhnlichen“ und ein anderer das „Genie der realistischen Vergegenwärtigung“

Seine Helden oder treffender gesagt, Anti-Helden, sind in aller Regel männlich, einsam und in vielerlei Hinsicht gebrochene Geschöpfe, gescheitert an dem Leben, das sie lebten bzw. den Umständen, die sie für das Leben hielten. Zudem dämonisierte er in seinen Texten immer wieder das Weibliche, die Frau als Schattenwurf einer universalen Angst. Das hatte auch ursächlich mit diesem bereits erwähnten problematischen Verhältnis zu seiner Mutter zu tun. Im New Yorker „Walldorf-Astoria“ gab es ihm zu Ehren ein großes Bankett seines amerikanischen Verlegers, mit viel Prominenz aus der polyglotten, glamourösen Welt des Literaturbetriebs. Und Simenon ist es sehr wichtig, dass seine Mutter dabei ist. Er bucht ihr die Tickets für den Flug, der sie von ihrem flandrischen Dorf nach Amerika bringen wird, und quartiert sie in einem der nobelsten Hotels der Stadt ein. Seine Rede, die er am Abend des Empfangs hält, macht sie zu einem Fixpunkt seines Lebens und seines Schaffens. Dann aber inszeniert sie sich in kalkulierender, provozierender Absicht in einer gegenläufigen Perspektive, sie weiß, dass die internationale Presse darüber berichten wird, und sie wird erst erscheinen, nachdem seine Rede stattgefunden hat, denn sie kennt den Ablauf des Abends durch das Programm, welches ihr Wochen vorher zuging. Sie wird schäbige, alte Kleidung tragen, denn sie möchte um jeden Preis auffallen, ihr Programm ist die Verweigerung, sie will ihn damit demütigen, ihm zu verstehen geben, dass er all das in ihren Augen verraten hatte, was sie für ihn für richtig hielt. Mit seinen Erfolgen, mit der Anerkennung in der Welt, in der er lebte. Vielmehr sollte er dieses enge, dumpfe, ereignislose Leben führen, dass das ihre war, und diese geistige Provinzialität als seine Heimat betrachten. Im Grunde hatte er ihr das nie verziehen und im Grunde waren die Themen seiner Romane auch ein permanentes An-Schreiben gegen sie, und diese  Simplifikationen des Lebens, und seine atemlosen, sexuellen Begierden waren es auch, zumindest sehe ich das als einen ihn treibenden Aspekt. 

Gleich auf der ersten Seite des Romans lernen wir die beiden Hauptfiguren, Tony Falcone, Sohn italienischer Einwanderer und Andrée Despierre, eine ehemalige Mitschülerin von ihm kennen. Einmal im Monat treffen sich die Beiden in dem blauen Zimmer des Hotels von Tonys Bruder in der nahen Kreisstadt. Beide sind verheiratet. Tony ist Vater einer sechsjährigen Tochter und mit seiner Frau, Giselle, einer unauffälligen Erscheinung, verbindet ihn eher ein kameradschaftliches Gefühl als das es Leidenschaft oder gar Liebe wäre, (S.37…). 

Andrée, die bekennt Tony schon immer geliebt zu haben, heiratet, weil er sie in ihrer Jugend nicht beachtet hatte, Nicolas, auch einen Mitschüler, der an Epilepsie leidet. Auch in dieser Ehe gibt es keine Liebe, bestenfalls Andrées mitleidiges Einverständnis mit dem Kranken, worin viel von ihrer eigenen Verzweiflung mitschwingt. 

Der Leser nimmt teil an einer subtilen Orchestrierung des Alltäglichen, insofern als er mit jeder Seite, die er tiefer in die Abfolge der Ereignisse eindringt, einer auf allem lastende Tragik eines Lebens gewahr wird, dass sich seine verhängnisvollen Wege sucht. Und die anfangs leidenschaftliche Affäre mündet für Andrée und Tony in einer unausweichlichen, desaströsen Obsession.

 Sie: “Stimmt es, dass du dein ganzes Leben mit mir verbringen könntest? Er:  „Ja“!  Sie: “Und was, wenn ich frei wäre? Würdest du dich auch befreien?“

Am Ende des Romans erfahren wir, dass es schließlich ihre Fragen sind, die den Schlüssel zur Auflösung des abgründigen Geschehens liefern werden.

Simenon ist ein Meister der literarischen Verwertung psychologischer Befunde, die von ihm wiederum so gekonnt miteinander verwoben werden, dass daraus ein Konglomerat exemplarischer, menschlicher Verhaltensweisen erwächst, denn, das habe ich mich beim Lesen seiner Bücher oft gefragt, Was-Wäre-Wenn(?), wenn ich in einer solchen Situation, wie der beschriebenen wäre? Ist dabei die einzig gültige Moral jene, die ein expliziter Werte-Kanon von Gut und Böse festlegt? Das wusste schon Dostojewski, den Simenon sehr verehrte, mit dem Schicksal Raskolnikow‘s in „Schuld und Sühne“ exemplarisch zu erzählen. Und gerade an diesem Verweis lässt sich das „Blaue Zimmer“ auch tauglich vermessen.

Alle prägnanten Figuren Simenons, wie auch Andrée und Tony es sind, erscheinen als archetypisch in einer Welt der vielen anderen, als Nicht-Dazu-Gehörige, deren permanentes Unbehagen eine klaustrophobische Lebensform als ihre Realität trägt. Und diese fragwürdige Gewissheit wird schlussendlich in einem rasenden Crescendo dramatisch enden. Das fühlt sich an, als hörte man in einem fernen Hintergrund diese herbstlich gefärbten Stücke eines Erik Satie, in denen der Komponist den rauen, kantigen Winden, die die tiefhängenden Wolken treiben, hin zum Horizont, wo das Meer den immer wiederkehrenden Ablauf der Gezeiten formt, gleichsam einen melancholisch grundierten Takt verordnet. 

Insofern stellt sich die Frage, ob Simenon nun tatsächlich nur dieser, von der Kritik oftmals als Vielschreiber naserümpfend zur Kenntnis genommene Autor gewesen ist?! Auch ich verhielt mich lange Zeit ihm gegenüber ignorant, denn wer so viel schrieb, dem konnte doch nicht permanent etwas Gutes gelingen. Spätestens aber nach der ersten Seite des ersten Romans, den ich von ihm gelesen hatte, leiste ich Abbitte, denn wie kaum jemanden sonst, gelang es ihm mit wenigen Strichen, monumentale Konturen einprägsamer Charaktere zu schaffen, die einmal wahrgenommen, einem nicht mehr aus dem Sinn gerieten. 

Sein Schreibprozess glich einem Rausch, in den er sich selbst wie in Trance versetzte. Zumeist kündigte sich der Wille und die Notwendigkeit zu einem neuen Text, durch Unwohlsein und starke Nervosität bei ihm an. Hernach begab er sich in Klausur, verschloss sein Arbeitszimmer und hämmerte wie besessen die Worte und Sätze in seine Schreibmaschine. Jeden Morgen zwischen 6.30 - 9.00 Uhr jeweils ein Kapitel, mehr ging für ihn am Tag nicht und das nie länger als vierzehn Tage. Danach die bedingungslose Erschöpfung und das Telegramm an seinen Verlag:“…, fertig!“ Kein Wunder, dass ihn diese infernalischen Kreativitätsschübe dazu brachten, so viele Bücher zu schreiben - und von dem eben geschriebenen war es nur ein kurzes, schöpferisches Luftholen bis zum nächsten. Was für ein unglaublich produktives Schriftstellerleben! Gibt es dazu überhaupt einen Vergleich? Mir fiele keiner ein!

Thomas Wörtche schrieb einmal in einem Essay zu Simenon:“…, wer ihn liest, liest nicht nur einen, zwei oder drei seiner Romane, sondern will alles lesen, was er kriegen kann, denn Simenon macht süchtig!“ Und genau so geht es mir auch! Und ich denke das liegt darin begründet…, aber soll es der Grand Maître doch am besten selber sagen: Zitat: “…, denn alle meine Romane bilden schließlich einen einzigen, großen Roman “.

Er, der Suchende, wollte in seinen Büchern immer wieder ergründen, was den Menschen bestimmte. Das erforderte, gerade auch die Abgründe seiner Figuren offenzulegen. In der Summe erwuchs daraus ein allumfassendes Werk von universeller Gültigkeit, ein Sittengemälde, welches der „Menschlichen Komödie“ des Honoré de Balzac als durchaus ebenbürtig zur Seite gestellt werden darf.

 

Georges Simenon, "Das Blaue Zimmer", Atlantik Verlag. Aus dem Französischen von Mirjam Madlung. Mit einem Nachwort von John Banville, Taschenbuch, 176 Seiten, ISBN: 978-3-455-00786-2, 9,95 €.