Maut-hausen, mitten in Österreich

Die Wirklichkeiten Österreichs haben für mich seit je etwas Bühnenhaftes. Da ist diese narzisstische Schönheit der Berge, deren Materie sich allgegenwärtig über das Dasein seiner Bewohner beugt und in diesem Duktus irgendwie und immer wieder den Lauf des Sonstigen bestimmt. Zudem atmen nicht wenige Orte in diesem Land eine theatralische Wichtigkeit, doch schaut man genauer hin, durchschaut man recht bald diese Attitüde des Scheinbaren. Dazu die Seen, eingerahmt von einem satten Grün. Ornament und Zierde, für das Auge des Betrachters ein umgarnendes Dekor. Requisiten überall, in denen wir Komparsen uns erst einmal zurecht finden müssen. Und dann gibt es in diesem Land allerhand kleine Städte und noch mehr kleinere Ortschaften. Diese Ansammlungen menschlichen Lebens beherbergen in einer sublimen Art und Weise einen erstaunlichen historischen Vorrat. Dabei hält sich das bühnenreife Auftreten vergangener Zeiten recht im Verborgenen. jedoch bei einem weiteren Hinsehen wird man gewahr, dass sich die Geschichte sowieso nicht mehr im lautlosen Gehen üben muss, denn das alles hat sie längst zum Stigma erhoben. 

Ganz anders bei den größeren Städten, und dieser einen, großen Stadt des Landes - Wien! Wien aber wäre eine ganz andere Geschichte... 

Begeben wir uns vielmehr nach Linz. Die Hauptstadt des Bundeslandes Oberösterreich, so genannt, weil es oberhalb der Donau liegt. Eigentümlich für Außenstehende, denn an und für sich suggeriert das Ober… von Österreich eher etwas mit Höhe im Sinne von tektonischen Erhebungen, die man allerdings in diesem Landstrich in ihrer bestimmenden Konkretheit oft genug erfolglos versucht zu finden. Zudem führt in diesem kleinen Land die Einteilung nach allerlei Bundesländern zu der Suggestion einer beträchtlichen Flächenausdehnung, die man so natürlich nicht zu entdecken vermag. Schön gelegen an der schönen blauen Donau, betritt der Reisende den Hauptplatz der Stadt, dominiert von einer Pest-Säule in unwirklicher, barocker Pracht. Denn bedenkt man den Anlass ihres Entstehens, vermutete man eher eine schlichte, demütige Steinsäule. Aber ja…! Die hier in Stein gehauene Dreifaltigkeit blickt auf den Betrachter etwas zeremoniell vor allem aber gravitätisch abweisend, herab. Ganz und gar unmissverständlich gibt sie dem Fremden mit auf den Weg, nur der Glaube vermag Berge zu versetzen! Im Eigentlichen aber ist es ja der Klerus, der gemeint ist, diese institutionalisierte Machtausübung oft genug wider den Glauben. Nur ist es in diesem Land geboten, will man es in seiner Eigenheit besser verstehen, sich an diese Tatsache rasch zu gewöhnen, denn das Prokrustesbett des Katholizismus ist allerorten stets bereitet. Noch flugs ein paar Schritte durch die Altstadt. Was von ihr als Abbild in der Erinnerung zurückbleibt, sind weniger die prachtvollen bürgerlichen Residenzen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts als vielmehr umbaute Gevierte phantasmagorischer Seltsamkeit. Es ist eine Architektur existenzieller Leere, die mich da umgibt, so als würde ich mich inmitten eines Mikrokosmos, entworfen von de Chirico, befinden. Vielleicht aber war es auch nur der bis zur touristischen Unkenntlichkeit weggeputzte Firnis. Mag sein…, jedoch - und das ist vermutlich nun tatsächlich kein Zufall, begegnete mir diese existenzielle Leere alsbald wieder.

Mauthausen liegt cirka zwanzig Autominuten von Linz entfernt. Das Vexierspiel der hochstehenden Sonne verwandelt die Donau, diesen majestätischen Fluss, der rechter Hand die Fahrbahn säumt, in eine Projektionsfläche meiner ungeordneten Gedanken. Dieser Ort mit seinen knapp fünftausend Einwohnern wuchs in den letzten fünfzehn Jahren gerade einmal um fünfzig Einwohner. Ein Prozent in der Summe also, die das Trauma, dass die jüngere Geschichte hier hinterlassen hat, entweder ignorieren, sich damit arrangieren, oder aber ganz pragmatisch von der Gegenwart in die Zukunft schauen. Zumindest kann man, will man für sich eine Rechnung auf der Habenseite aufmachen, festhalten, dass dieser Ort als Lebensraum kaum nennenswerten Zuspruch erfahren hat. Vielleicht doch eine Lehre aus der Geschichte? Jedenfalls fällt auf, dass das Leben hier seinen ganz normalen Gang zu gehen scheint. Warum auch nicht? Es gibt einen Supermarkt, eine Tankstelle, die Abfahrt zur Schnellstraße ist rasch und unkompliziert zu erreichen und bindet die Gemeinde in die alltägliche Funktionalität ganz selbstverständlich ein. Die Fassaden der Häuser sind geputzt und mit Blumenkästen vor den Fenstern pittoresk geschmückt. Baugerüste künden von Renovierungsarbeiten und Neubauten. In den Gärten sitzen die Bewohner unter schattenspendenden Sonnenschirmen und entspannen vom Lauf des Tages. Alles was zu sehen ist entspricht einer Ordnung, die durch eine ganz banale Alltäglichkeit strukturiert wird. So oder so ähnlich muss es auch damals in dieser dunklen Zeit gewesen sein. Ganz kognitiv betrachtet bekomme ich diese Parallelität von abgrundtiefen, grauenvollen Tatsachen bei gleichzeitiger Rechtschaffenheit und artikulierter Ahnungslosigkeit ganz gut erklärt, nur hilft mir das kaum weiter, denn schließlich und endlich hängt doch alles miteinander zusammen - oder?! Der Kreislauf in dem wir uns bewegen, ist bestimmt von einer Gleichzeitigkeit des Verschiedenen. Folglich denke ich, dass das Leben nicht losgelöst von den Umständen, in denen es geschieht, betrachtet werden kann.

Im Konzentrationslager Mauthausen mit seinen Nebenlagern wurden zweihunderttausend Menschen von den Nazis inhaftiert, hunderttausend davon umgebracht! Solche monströsen, nackten Zahlen dokumentieren ein furchtbares Verbrechen an den Menschen durch den Menschen, zeigen, in welch‘ einem unfassbaren Ausmaß die Indoktrination durch eine selbsternannte Elite das menschliche Wesen instrumentieren konnte. Sie machen dieses Grauen aber auch abstrakt und entfernen es von einem fassbaren Begreifen. 

Wir stehen auf dem sonnendurchfluteten Plateau vor uns die dicken Quader der Mauern, die das einstige Konzentrationslager umspannen. Einmal um die eigene Achse bewegt, kann der Blick die Weite der Landschaft, die den Lauf der Donau in eine melancholische Diktion einbettet, durchmessen. Links thront das ehemalige Verwaltungsgebäude des Lagers. In seinen Büroeinheiten wurden akribisch und in deutscher Gründlichkeit, massentaugliche Kriterien geschaffen, die verlässlich „unwertes“ Leben auslöschten. Eine Akkordarbeit am Fließband des Mordens brauchte eine zuverlässige, eine handfeste Organisation. Wenn schon das Prinzip der Hoffnungslosigkeit am Eingangstor die Häftlinge empfing, so wirkte die Lagerstraße, von der links und rechts die Baracken abgingen, die weit über ein erträgliches Maß mit „Menschenmaterial“ vollgestopft waren, wie ein zynisches Fanal. In Linz sah ich diese gebaute Leere, die etwas Metaphysisches in sich barg. Hier wurde die Architektonik des Schreckens in seiner diabolischen Schärfe zu einem steingewordenen Requiem, denn es gab nun keinen Weg mehr zurück! Die überdimensionierte Breite dieser Straße folgte dem Auftrag der enthemmten Entwürdigung der Insassen des Lagers. Das requirierte menschliche Individuum sollte in seinem Dasein als Nummer XYZ deklariert sein. Da war kein Halt, woran das Auge sich aufrichten konnte. Schattenlos, kein Baum, kein Strauch, einzig der trostlose Staub, der sich in jede Pore setzen wollte und der ohnehin, früher oder später, sich mit dem Inkarnat der Toten vereinte. Auffällig auch die Effektivität der kurzen Wege. In den Kellern die Gaskammern und über einen angrenzenden Gang, Flur (?), ich weiß wirklich nicht, wie ich die Wege der Hölle benennen soll, waren die Zuarbeiter der Vernichtung sogleich an den Verbrennungsöfen. Sauber, reibungslos, ertragreich, ohne unnötigen Aufwand ging das im Maschinenraum des Tötens vonstatten. Kürzlich habe ich gelesen, dass in den letzten Momenten des Todeskampfes der Häftlinge in aller Regel auch die biologischen Faktoren griffen. Denn bei späteren Befunden zeigte sich, dass die Männer bei den nicht mehr rechtzeitig zu beseitigenden Leichenbergen zumeist oben lagen. In ihrer Todesnot hatte ihre Physis in einer defätistischen Intensität ihre Scham überwältigt. Sie versuchten in dieser Verzweiflung diesem Inferno noch zu entkommen. Ein menschliches Ermessen verwehrt einem solchen apokalyptischen Szenario jede Vorstellungskraft. Jedes, in seiner Botschaft noch so eindringliche Bild muss in seiner Aussage hier versagen, denn nicht selten waren es ihre Frauen, ihre Mütter und ihre Kinder, denen sie in diesem rasenden Furor mit ihren eigenen Händen und Füßen noch die allerletzten Lebenszeichen löschten. 

Unsere Schritte bewegen sich weg von diesem Territorium, das durchdrungen ist von Gottes Versagen. Meine Gedanken intonieren eine Miissa und einen Kaddisch zugleich als Anklage für dieses unendliche Sterben. Und in mir bleibt das Verlangen, diese erschütternde Abwesenheit des Menschlichen bei den Tätern nie zu vergessen und niemals zu verzeihen.

Wir sitzen auf einer Bank vor den Toren des Lagers und blicken auf die Monumente des Gedenkens der Nationen, an deren Opfer hier manifest und im Stillen erinnert werden soll. Und die ebenso ein mahnendes Zeichen für uns Nachgeborene sind. Der Schatten ist angenehm kühl nach der Hitze des Tages. Es ist ein reges Hin und Her, viele Besucher der Gedenkstätte halten inne, reden miteinander. Ich glaube nicht, dass diesen Menschen jemand noch erklären müsste, dass es ohne Teilhabe kein Verständnis gibt. Und trotzdem bleibt da dieses stete Unbehagen, dass der Schoß noch immer fruchtbar ist, der solches gebiert.

Was mir nun auffällt ist dieses regelrecht babylonische Sprachgewirr, dass in der schweren Sommerluft liegt. Spanisch, Italienisch, das laute, amerikanische Englisch, Französisch, Deutsch natürlich – und, und, und… Aus allen Himmelsrichtungen unseres Planeten haben sich die Menschen an diesem Punkt zusammengefunden, durch unterschiedliche Notwendigkeiten hierhergeführt. Alt und Jung und das ist für mich in diesem Moment der ausschlaggebende Punkt, die Jugend, unsere Zukunft, setzt sich mit dieser Vergangenheit auseinander. Und ich bin der festen Überzeugung, die allermeisten dieser Menschen, zumindest hier an diesem Ort, haben diese eindringliche Botschaft dieser Stätte verstanden.