„Da draußen war die Schöpfung: kleine grüne Äpfel und ansteckende Krankheiten“ (1)
Das Wieso?
Einige Gehminuten von Stazione Termini, dem Hauptbahnhof Roms, und ganz in der Nähe der Basilica Santa Maria Maggiore, die im fünften Jahrhundert auf einem der sieben Hügel der Stadt, dem Esquilin, erbaut wurde und durch die Ausübung der exterritorialen, pontifikalen Eucharestie bald eine herausragende Bedeutung für die katholische Glaubensgemeinschaft hatte, entdeckt der interessierte Reisende, die Chiesa Santa Pudenziana, 384 n.Chr. geweiht, mithin eine der ältesten Kirchen der Stadt.
Es ist ein noch früher, sonnenklarer Morgen an einem heißen Junitag und es ist nach vielen Jahren mein zweiter Besuch dieses Gotteshauses. Jetzt, wie damals, galt mein Interesse in dieser Stadt der Baukunst der frühen Christenheit. Diese Hinterlassenschaft, kaum dem Griechisch-Byzantinischen entwachsen, verwob die handwerkliche Vollkommenheit der in aller Regel namenlosen Architekten, denn der Habitus des Künstlers, wie wir ihn kennen, bildete sich erst in der späten Gotik, vor allem aber mit der Renaissance heraus, mit dem klaren ästhetischen Signum ihrer Bauherren, deren Auftrag es war, die revolutionäre Mission des Rebellen Jesus Christus in einer demütigen Formensprache, die in ihren besten Momenten mit ihrem künstlerischen Vokabular, eine Aufhebung von Raum und Zeit glauben machte, zu installieren. Das war eine Verkündigung der Botschaft des Mannes aus Nazareth, noch bevor das Christentum sich als Staatsdoktrin manifestierte und der Klerus daraus über viele Jahrhunderte seinen Machtanspruch zementieren sollte.
Ich empfehle jedem, im Gepäck mit diesen Gedanken, einen solchen sakralen Bau einmal zu betreten, um womöglich es dann zu spüren, diesen Glauben an einen Plan von Etwas und vielleicht lässt sich dadurch der umbaute Raum als eine Botschaft unendlichen Stille erahnen, es sei einem jedem zu wünschen.
Bei meinem ersten Besuch von Santa Pudenziana war ich noch „analog“, also ohne Google Maps als kundigen Begleiter unterwegs. Das mag die Tatsache erklären, dass ich anhand des Stadtplans mehrere Versuche benötigte, die Kirche zu finden. Ich war immer davon ausgegangen, dass dieser Bau an der heutigen Straße lag, bis ich ihn, eher zufällig, einige Meter unterhalb derselben ausmachte.
In „Requiem für eine Nonne“ gibt es diesen Satz von William Faulkner: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“ Christa Wolf wird diesen später als Motto ihrem Roman „Kindheitsmuster“ voranstellen.
Jetzt, beim Schreiben, fällt mir dieser Satz wieder ein, denn er erinnerte mich daran, dass ich während dieser Reise auch intensiv mit der Lektüre von Don DeLillos Opus Magnum, „Unterwelt“, befasst war. Dieses Buch gab mir ein grundlegendes Verständnis dafür, wie alles mit allem zusammenhing. Das Davor und das Jetzt und das Spätere gleichermaßen. Philipp Roth hat das einmal so formuliert: “Nichts verliert sich, weil nichts Bestand hat.“
Dieser Roman intonierte einen stimmgewaltigen Chorus, der die Geschichte der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in den Fokus nahm, jener Jahrzehnte, die von einem Amerika bestimmt waren, welches die Weltordnung der Jahrtausendwende formte. Nick Shay, einer der Protagonisten, ist als Ingenieur im Auftrag eines multinationalen Unternehmens unterwegs, um deren Technologien zur Müllverarbeitung zu präsentieren. DeLillo lässt den Leser begreifen, dass der Müll, den die Menschen produzieren, ein komplexes, globales Problem ist, dass auch nur im Zusammenspiel aller Kräfte, global zu lösen ist. Die Optik des Autors ist darauf gerichtet, an diesem Problem, die Probleme der Menschheit festzumachen, insofern als er es als ein Kontinuum der Geschichte betrachtet. Damit thematisiert er den fatalen Kreislauf von Tun und Lassen, denn alle Erfindungen, technischen Errungenschaften, die Fortschritte des Denkens mit ihren angewandten Erkenntnissen, das Leben in den schnell wachsenden Städten, etc. etc., lagerten sich gleichzeitig als topographischer Nachlass in den Lebensräumen der Menschen zu allen Zeiten ab. So erklärt es sich, dass bei archäologischen Funden, die Grabungen, Zeugnisse vergangenen Lebens sehr viel tiefer in der Erde liegend zu tage befördern, als es der Grund auf dem wir heute leben, ist. Dabei ist jeder dieser Funde zugleich auch die Erzählung seiner Geschichte.
Als ich damals versuchte, nach mehrmaligen Anläufen und kilometerweiten Umwegen, diese Kirche zu finden, wurde mir schließlich der Titel des Buches „Unterwelt“ bewusst, denn ich befand mich auf dem Boden-Niveau aus spätantiker Zeit, worauf der Bau errichtet worden war und nur eine Treppe ermöglichte den Zugang von der jetzigen Straßenhöhe. Und zwischen da, nach dort, lagerte die Kakophonie menschlicher Spuren, die auf eine Genese von annähernd zweitausend Jahren blickte.
Das Was?
S.11-13…, soweit der Anfang dieses Romans... Cotter Martin, dieser vierzehnjährige Junge aus Harlem, dem Stadtteil New Yorks, in dem viele Schwarze lebten, ist ein weiterer Akteur, dessen Lebensweg das opulent besetzte Figurenensemble dieses Romans ausmachen. Ihm wird es gelingen, in der konturlosen Masse der frenetischen Zuschauer des legendären Baseball-National-Finals zwischen den Brooklyn Dodgers und den New York Giants unbemerkt abzutauchen. Und es wird ihm gelingen einen Spielball, der über den Rand des Spielfeldes springt, zu schnappen. Und diese Trophäe begleitet die Leser durch fünfzig ereignisreiche Jahre, denn soweit trägt uns diese Geschichte. Es ist der dritte Oktober des Jahres 1951 und es ist zugleich der Tag des ersten Atombombentests der Sowjets.
Wir werden Frank Sinatra und seinen zwielichtigen Gefährten begegnen. Und wir treffen auf J. Edgar Hoover, diesen berüchtigten FBI-Chef, der für die Verfolgung von Künstlern und Intellektuellen wegen „unamerikanischen“ Verhaltens in der McCarthy-Ära, einen sehr zweifelhaften Ruhm erlangte. In einem späteren Kapitel des Buches, im November 1966, wird jener J. Edgar Hoover Gast auf der zum Mythos gewordenen Black-And-White-Party Truman Capote’s im Plaza Hotel New York sein. So genannt, weil jeder Besucher sich in diesen Farben zu kleiden hatte. Fünfhundert geladene Gäste, der Show-Bizz und die sonstige Prominenz der Zeit, feierten als ob es keinen Morgen geben sollte und draußen protestierten die Demonstranten gegen den Vietnam-Krieg. Norman Mailer, der weltweit anerkannte Autor des Antikriegsromans „Die Nackten und die Toten“ war dort, lovely Frankie-Boy-Sinatra ließ sich diese Gelegenheit nicht nehmen und Andy Warhol trägt eine Maske, die ein Foto seines eigenen Gesichtes zeigt. Das alles schien wie die Choreographie eines letzten, atemlosen Tanzes auf einem vor dem Ausbruch stehenden Vulkan. Und tatsächlich begann sehr bald nach dieser Party der rasante, unaufhaltsame Absturz des gefeierten Stars des amerikanischen Literaturbetriebes, Capote, Schöpfer von „Frühstück bei Tiffany“ und „Kaltblütig“.
Nun befinden wir uns wieder in dem Stadium der Giants, dem Polo Ground, wo Zehntausende das Spiel, das hin und her wogt, gebannt verfolgen. Und dann, ganz plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, kippt das Geschehen in eine apokalyptisch anmutende Szenerie, die dem Eingangskapitel auch seinen Namen gibt: „Der Triumph des Todes“ (2).
J. Edgar Hoover wird ein abgerissenes Blatt aus einem der bunten Magazine vor die Füße geweht, er hebt es auf, betrachtet gedankenversunken das Bild, welches heute im Prado von Madrid zu sehen ist, und beginnt zu lesen, S.58-60…
DeLillo entwirft ein grandioses Schauspiel und gleichzeitig ein Bild im Bild des Bildes, deren Metaphern er meisterhaft mit dem tatsächlichen Geschehen unten auf dem Rasen verbindet, wo die Akteure zu Gladiatoren mutieren und sich das Stadion zu einer, aus der Zeit gefallenen, kolossalen Bühne auswächst, auf der die existenziellen Entscheidungen zwischen Leben und Tod verhandelt werden und sonst nichts.
In einer Rezension zu diesem Roman habe ich gelesen, dass, wenn man die ersten siebzig Seiten geschafft hat, die eigentliche Handlung erst beginnt. Das trifft es in seiner Schlussfolgerung nicht wirklich, denn dieser Prolog ist zugleich die Einstimmung für den Leser, die Fäden dieser so komplexen, wie facettenreichen Geschichte aufzunehmen, denn alles, was dann folgt, basiert auf diesen ersten siebzig Seiten des Buches.
1978 besucht Nick Shay, der Ingenieur des Müllmultis, in Los Angeles eine internationale Konferenz. Diese Zusammenkunft ist von dem mutmaßenden Geraune um ein Geisterschiff geprägt, das seit Jahren auf den Meeren der Welt unterwegs ist, dabei schon mehrfach Flagge und Namen gewechselt hat, aber nirgendwo andocken darf, denn es soll beladen sein mit menschlichen Exkrementen. Zitat: „Was wir ausscheiden kehrt zurück, um uns zu zerstören.“ Ein Müll-Archäologe wird über eine Architektur des Mülls referieren, denn Müll treibt ganze Städte in die Höhe. Zitat: „Städte werden gebaut, um Zeit zu messen.“ Und Müll wird schließlich ganz eigene soziale Schichten hervorbringen, die an einem Mülltourismus partizipieren, denn, welch‘ aberwitziger Kitzel, Touristen wollen das Ultimative, sie wollen dorthin, wo es den giftigsten Müll auf dieser Erde geben wird. In dem Tagungshotel gibt es zudem eine Gruppe von Swingern, die zum Partnertausch angereist sind. Mit einer von ihnen, Dora, wird Nick Sex haben und ihr zuvor anvertrauen, dass er in seiner Jugend einen Menschen umgebracht hat, wofür er eine Gefängnisstrafe verbüßen musste. Und dieser amerikanische „Homo Faber“, der im Eigentlichen die Welt als technisches Ereignis sieht und durch seine Ratio definiert, wird ihr von seiner rastlosen Suche nach dem Text eines mittelalterlichen Mystikers erzählen und ihr damit, qua Antithese seines Lebens, seine Sehnsucht nach Gefühlen und Gedanken, die latent von einem immanenten Gottesbezug getragen werden, spiegeln wollen.
Aus dem Universum dieser vielstimmigen Geschichte erwachsen den Lesern weitere prägnante Figuren. Die Künstlerin, Klara Sachs, die aus verschrotteten B-52-Bombern in der Wüste von Nevada, Kunst-Installationen kreiert und die dem endgültigen Geheimnis der Farben auf den Grund gehen möchte. Pater Paulus, der dem jungen Nick das Gefühl für Sprache und Sprechen lehren wird und ihm, nach der, durch die Verschränkung unglückseliger Zufälle begangenen Tötung in seiner Jugend, sowie dem plötzlichen Verschwinden seines Vaters, damit aus seinen Traumata helfen wird. Marvin Lundys, ein Baseball-Maniac, der seinem Hang zu Verschwörungstheorien immer wieder nachgeben will. Oder Bronzini, dem Atomphysiker, diesem habituellen Flaneur, für den Gehen eine Kunst ist, die er hinlänglich nutzt für philosophische Betrachtungen auf seinen ausgedehnten Wegen in den Straßen New Yorks, und, und, und…!
Im Epilog des Buches erscheint uns schließlich der „Engel Esmeralda“ als symbolträchtige Figur, die DeLillo, dieser italo-amerikanische Katholik, der er auch ist, gleichsam als ein Ikonostas mit den Insignien des Verfalls vor den Augen der Leserinnen und Leser aufscheinen lässt. Der „Engel Esmeralda“ wurde in den USA bereits 1994 als eigenständige Erzählung veröffentlicht, und später hat er diese in den Roman eingebaut.
Die Ordensschwestern, Edgar und Gracie, versehen an diesem, wie an jedem Tag des Jahres, ihren karitativen Dienst an den malträtierten Seelen, die am untersten Rand eines menschlichen Daseins, die Ruinen erodierender Straßenzüge bewohnen und die hoffnungslos auf der Suche nach einer Hoffnung sind, die nicht von dieser Welt sein kann. Für Jeden, der aus diesem Leben in ein Sterben flieht, sprüht Ismael, ein ehemaliger Junkie, Graffitis auf blauen - für die männlichen, und auf roten Grund für die weiblichen Opfer, weithin sichtbar, auf die verwitterten Hausfassaden. Ein Code aus dem Hades, der den Touristen-Bussen die dieses Areal frequentieren, entgegen schreit, nein, Ihr seid hier nicht willkommen, denn Ihr, nicht wir, seid die Irren dieser Welt.
Esmeralda ist ein Mädchen von zwölf Jahren, das verlassene Grundstücke nach weggeworfenen Kleidungsstücken absucht, die Müllsäcke vor den Häusern nach verdorbenen Lebensmitteln durchwühlt, ein Mädchen, das manchmal zu sehen ist, wie es zwischen Bäumen und Spalieren von Unkrautbüschen hindurchläuft, ohne zu stolpern, schattenhaft, eine Silhouette auf Trümmerwänden abgerissener Bauten.
Die Nonnen versuchen sie seit Tagen zu finden, sie wollen sie in eine soziale Einrichtung oder aber in ihr Kloster bringen. Sie muss untersucht werden, braucht eine richtige Ernährung und für eine Schule wollen sie sie auch anmelden. Sie werden zu spät kommen, denn das obdachlose Noch-Kind-Geschöpf Esmeralda ist zu schwach für diese Welt. Sie kann diesen erbarmungslosen Kampf ums Überleben nicht gewinnen. Zwischen Schuttbergen wird man sie finden, reglos auf dem Straßenpflaster liegend, tot! Ein Mann, der unerkannt flüchten kann, hatte sie vergewaltigt und danach aus dem Fenster einer Hausruine in die Tiefe gestürzt.
Diese Tat wird sich sehr schnell herumsprechen. Erst sind es wenige, dann werden es immer mehr, bis es viele, ja tausende Menschen sind, die aus allen Himmelsrichtungen der Stadt zusammenkommen, um die Erscheinung zu sehen, den „Engel Esmeralda“. DeLillo wird das zu einem finalen Crescendo dieses Buches erheben. S.957-959…
In einer Kirche in Venedig kann man Tizians, „Maria Assunta“ (3) sehen, worin die Himmelfahrt Marias dargestellt ist. Und dieses Bild drängte sich mir beim Lesen immerzu auf. Tizian formulierte als einer der ersten das Zeremoniell des katholischen Hochamtes, wendete seinen Blick jedoch darüber hinaus. Indem er Maria Aufnahme in den Himmel finden lässt, löst diese sich zugleich von der Kirche, er verweltlichte damit das religiöse Thema und gibt es an die Zuständigkeit einer menschlichen Verantwortung zurück, was für seine Zeit sehr kühn und sehr modern war.
Im Werk Paul Klees finden sich annähernd fünfzig Engel-Darstellungen. Das Aquarell, „Angelus Novus“ (4) ist eine frühe Arbeit dieser Werkgruppe, die er 1920 schuf. Seit 1921 war sie im Besitz von Walter Benjamin. Er nahm sie auch mit als er 1933 ins französische Exil gehen musste. Wenige Tage nach seinem Freitod, 1940, fand man diese in seinem Koffer, verstaut neben letzten Texten von ihm. Benjamin hatte sich immer wieder in verschiedenen Schriften mit diesem Bild beschäftigt. Schließlich wird er dazu seinen berühmten Essay, „Der Engel der Geschichte“ verfassen, dessen Kernthese, die Loslösung von Gott, eines, im Angesicht der Verwerfungen der Geschichte ohnmächtig gewordenen Engels, in ein weit entferntes Irgendwo, ist, gewissermaßen eine Vertreibung aus dem Paradies. Oder, um den Zeitbezug von Benjamin aufzunehmen, die Entmenschlichung durch den Menschen selbst. Die Kaballa, die jüdische Seinslehre, sieht den Engel als ein Wesen, das kurz vor seiner Auflösung ins Nichts immer wieder neue Engel gebiert.
Diese Bilder sind es, die mir das Erzählen des Don DeLillo erfahrbar, nahbar werden lassen. Es ist dieser Kontext, den ich bei diesem fulminanten Schlussakkord sehe, denn anders kann ich mir es nicht erklären, dass er die Vision der Apotheose in dieser Form so vergegenwärtigte. Sinnestäuschung hin oder her, es ist allein der Glaube, der zählt, denn die Menschen sind erst gestorben, wenn man sie vergessen hat. Das letzte Wort auf Druckseite 966 heißt dann auch: “Frieden“.
Das Wie?
Ich habe, sofern die Umstände das erlaubten, mir stets die Freiheit genommen, Lesen immer auch als ein gutes Stück harter Arbeit, wie es Martin Walser einmal gesagt hat, zu betrachten, und da war dieser Roman von diesem Autor gerade recht, denn:
- „Unterwelt“ arbeitet mit den Mitteln der Montage, die sich auch, denn DeLillo war ein eifriger Kino-Gänger, an den Schnitt-Techniken des Filmemachens orientiert. Bilder wie Brueghel‘s „Triumph des Todes“, seine „Kinderspiele“, Videoschnipsel im Netz von Atombombentests in der kasachischen Wüste, die kurze Sequenz, eines mit laufender Kamera aufgezeichneten Mordes auf einem Highway, in den anonymen Weiten des Landes, als Endlosschleife im Real-TV, und das Phantasma des „Engels Esmeralda“, korrespondieren mit den wirklichen Ereignissen eines Baseballspieles, spielenden Kindern auf den Straßen der Stadt, der Welt nach den Atombomben auf Nagasaki und Hiroshima, Telefonanrufen von verstörten Fernsehzuschauern, den lapidaren Kommentaren aus dem ereignislosen Leben amerikanischer Middle-Class-Familien aus den Suburbs der großen Städte, als auch dem egozentrischen Treiben von Beteiligten eines enervierenden Verkehrskollaps’ im nächtlichen Manhattan.
- „Unterwelt“ transformiert die literarische Sprache in ein eigenes Koordinatensystem. Du beginnst einen Satz, bewegst dich rezeptiv auf vertrautem Terrain, dann kommst Du in der Folge allmählich ins Schlingern, denn die kognitiven und sensitiven Gewissheiten beginnen zu schwinden, entfernen sich in ein ungewisses Flirren, um am Ende doch, in überraschenden Konstellationen in einer Realität, die der des Ausgangspunktes wiederum sehr nah ist, zu landen. Das erinnert an die musikalischen Rhapsodien des Bepop, dem Jazz der 40ziger und 50ziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Und seine „Rhapsoden“, Charlie Parker, Dizzy Gillespie und Miles Davis, waren auch frühe Helden des jungen Don. DeLillo war ein Einwanderungskind, dessen Familie aus dem armen Süden Italiens kam. In dem Zuhause seiner Kindheit, einer ärmlichen Drei-Zimmer-Wohnung in den von Neuankömmlingen aus aller Welt geprägten Quartieren der Bronx, die für elf Menschen ein Dach über dem Kopf war, gab es stets ein wirres Sprachgebräu aus einem rauen, ungestümen Italienisch und einem unbeholfenen, limitierten Englisch. Dieses unfertige Gebilde formt er zu einem, nur auf den ersten, flüchtigen Blick erscheinenden Durcheinander-Gerede, dass aber vor stilbildender, energetischer Kraft nur so strotzt. Und, das ist das Überzeugende, er verlässt dabei nie den Corpus, den er gerade situativ beschreibt, also kein l’art pur l’art. Vielmehr kann der Leser dadurch, hinter der ihm erfassbaren Welt, ein verwirrendes, surreales Abbild erahnen.
- „Unterwelt“ ist eine Herausforderung, zugegeben. Aber - in ihrer intellektuellen Autonomie fordert diese Materie uns zu einem kompromisslosen eigenständigen Denken auf. Und für einen ungeübten Leser wäre es eine waghalsige Empfehlung – sei’s drum: 1000 Seiten dicht, nicht linear erzählt, ein postmodernes, zugleich babylonisch anmutendes Kaleidoskop von Stimmen und Perspektiven, vielgestaltigen Geschichten von unzähligen Charakteren. Turbulenzen von Bewusstseinsströmen und mäandernder Seelenlandschaften durchbrechen dabei immer wieder unsere gängigen Lesegewohnheiten.
- „Unterwelt“ bevölkern Subkulturen und ein Konglomerat aus mafiösen Strukturen. Die realen Figurationen und fiktiven Figuren entwickeln dabei für das Auge des Lesers ein farbkräftiges Kolorit. Und das alles durchdringende Thema ist der Müll. Vom Atommüll des Kalten Krieges, über die Abfälle der Konsumkultur, bis zu den Überresten zwischenmenschlicher Beziehungen.
- „Unterwelt“ ist die Bestandsaufnahme einer Welt, in der wir nach wie vor leben wollen/müssen, wer weiß das schon so genau!? Zitat: “Wie tief ist die Zeit? Wie weit müssen wir ins Leben der Materie hinabsteigen, um zu begreifen, was die Zeit ist.“
- „Unterwelt“ ist nicht zuletzt auch eine Geschichte der kapitalistischen Gesellschaft, Zitat: „Konsumier oder stirb. Das ist der Auftrag unserer Kultur.“ Immer wieder bringt der Autor das auf diesen Punkt, denn alles kreist um den berühmten kleinen Ball aus dem Eingangskapitel, der sich zum Universum zahlloser Begehrlichkeiten weitet: Er wird errungen, gestohlen, gehehlt und mit Gewinn weiterverkauft; somit wird ein solcher Schatz, der die Projektion einer Vision, die dieses winzig kleine Fragment einer in ihren Ausmaßen dazu, schier gigantischen Realität, bestenfalls als einen Ausgangspunkt nimmt, zu einer Ware degradiert. Und Baseball ist, neben einem Burger von McDonald’s das wohl Amerikanischste überhaupt, womit wir mittendrin im Dilemma unserer westlichen Welt wären.
Das Wohin
DeLillo ist immer wieder als heißer Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wurden, dass er ihn bis heute nicht bekommen hat, bleibt ein Geheimnis, welches nur die Stockholmer Jury lüften könnte. In einem Interview hat er einmal bekannt, dass er nie vorhatte, Schriftsteller zu werden. Es sei eben nur so, dass er in New York lebe und da passiere jeden Tag an jeder Straßenecke so viel Verrücktes, dass er das irgendwann einmal als Teenager, der viel Zeit hatte und nicht so recht wusste, was damit anzufangen sei, begann aufzuschreiben… Gottseidank, können seine Leserinnen und Leser da nur sagen!
Viele seiner Sätze sind für mich für die Ewigkeit formuliert, wenn es sie denn gibt?! Eben mal die Welt im Ganzen in 1,2,3… Sätzen festgehalten! Dieses und jenes Zitat in diesem Text mag das belegen. Mitunter wähnte ich mich beim Lesen als Geologe, der sehr seltene Gesteine entdeckte, welche von einer makellosen Struktur und genuinen Substanz waren, die in ihrer Konsistenz zugleich über den Moment ihres Entstehens hinauswiesen. Das nahm mich mit, immer wieder, auf eine Reise zu einem noch unentdeckten Kontinent. Und doch ist diese Welt, die er in seinen Büchern beschreibt, eine ganz und gar heutige, die er für kommende Zeiten protokollieren wollte, Zitat: „In Büchern vergeht die Zeit im Laufe eines Satzes.“
„Unterwelt“, dieser kolossale Monolith von einem Roman, 1997 erstmals erschienen, in einer hervorragenden deutschen Übersetzung von Frank Heibert übrigens erst 2006, ragt einsam heraus aus den überfüllten Niederungen beliebiger, austauschbarer, sich dem Zeitgeist anbiedernder Schreibwerke unserer Zeit. Und dieses Buch ist nicht mehr und nicht weniger als eine weltliterarische Tatsache, deren dünn besiedelter Nachbarschaft sie sich mit einem „Zauberberg“, dem „Ulysses“, der „Education Sentimentale“, einer kurzen Geschichte der menschlichen Spezies in „Der alte Mann und das Meer“ sowie der unerträglichen Leichtigkeit eines Holden Caulfield, dem „Fänger im Roggen“, vergewissern darf.
Don DeLillo, „Unterwelt“. Verlag Kiepenheuer & Witsch. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert, 1088 Seiten, Taschenbuch, ISBN: 978-3-462-05173-5, 15.00 €
(1) : Don DeLillo, „Unterwelt“, S.278, Köln 2006;
(2) : Pieter Brueghel d.Ä., „Der Triumph des Todes“, Prado, Madrid
(3) : Tizian, „Maria Assunta”, Kirche Santa Maria Gloriosa dei Frari, Venedig
(4) : Paul Klee, „Angelus Novus“, Israelisches Museum, Jerusalem