Von Baudelaire, Noir Désir, Watteau, Lully...

Nicht nur, dass Baudelaire mit  seinem Hauptwerk „Les Fleur du Mal“ das Zeitalter der Moderne in der Literatur einläutete, er artikulierte damit auch das Unbehagen an den Zuständen einer Gesellschaft, die den Künstler in die Isolation trieben. Es war ein Manifest, welches mir DAMALS in die Hände fiel und seither vieles in mir bestimmte und vermutlich noch mehr klärte, indem es viel Ungeklärtes zurückließ.

Ich jogge durch den nahen Wald und aus meinen Kopfhörern dröhnt das hymnische „L’Europe“, des programmatischen Albums „Des Fisages des Figures“ der französischen Gruppe Noir Desir. Es gab Zeiten, in denen die populäre Musik sich der Referenz eines solchen Konzeptalbums vergewissern durfte, das eine popkulturelle Aneignung kritischer Positionen zu den bestehenden Normen einer Gesellschaft darstellte. Dabei erschlossen sich mir Musik und Texte dieser französischen Band in einer unmittelbaren Analogie zu Baudelaires  “Blumen des Bösen“, denn Klangfarbe und Tonfall dieser Musik des ausgehenden 20.Jahrhunderts hatten eine vergleichbare Materialität zu den Texten des französischen Symbolisten aus dem 19. Jahrhundert. Der Bandleader und Sänger der Truppe, Bertrand Cantat, trieb sich mit jedem Stück buchstäblich den Teufel aus dem Leib. Seine facettenreiche Stimme, die mühelos vom Falsett hin zum Bass changierte, hatte in ihrem Ausdruck eine orchestrale Intention, die eindrücklich die Bandbreite menschlichen Empfindens abzubilden vermochte. Und dieser charismatische Kopf sollte, nach weltweiten, triumphalen Erfolgen mit seiner Band, Jahre später bei Dreharbeiten zu einem Film, im Drogenrausch seiner Lebenspartnerin, Marie, Tochter des Schauspielers, Jean-Louis Trintignant, in einer heftigen Auseinandersetzung so massive Verletzungen zufügen, an deren Folgen sie kurze Zeit später verstarb.  Wofür er verurteilt wurde und eine langjährige Gefängnisstrafe verbüßte.

Und seit ich “Des Fisages des Figures“ das erste Mal hörte, hatte ich immerzu auch ein Bild des Malers Antoine Watteau vor Augen, „Pierrot gen. Gilles“. Jener Maler der Fêtes galantes, dieser Amüsements gehobenerer Kreise des Rokoko, zeigt uns hier den Gilles, den Possenreiser als traurigen Komödianten und es zeigt uns in dessen Körperhaltung und in seinem Gesichtsausdruck diese Diskrepanz zwischen der zugewiesenen Rolle des Spaßmachers und seiner tatsächlichen, melancholischen Befindlichkeit. Dieses  Watteau’sche Geschöpf, was es im Louvre zu bestaunen gilt, vereint die Ambivalenz des Künstlers, einsam vorn an der Rampe des Lebens zu stehen, um seine Botschaften stumm-schreiend zu verkünden.

 Und ich hörte dazu eine dieser Motetten von Lully, die diesem „ L’ Europe“ unterlegt schienen und in einem Nebenraum übte Molière mit seiner Truppe an dem „Eingebildeten Kranken“, denn am Abend gab der König der Franzosen ein großes Fest.