Jérome Ferrari, „Predigt auf den Untergang Roms“
In einem Kleinod von literarischer Buchhandlung, dem „Lese-Café“ in Frankfurt am Main bekam ich von dem Inhaber, dessen Meinung und Urteil mir stets wichtig war, auf meine Nachfragen, mindestens im Frühjahr als auch im Herbst nach lesenswerten Neuerscheinungen, seinerzeit diesen Tipp: sein Favorit der Saison sei das Buch eines in Deutschland gänzlich unbekannten Autoren aus Frankreich, Jerome Ferrari hieße er und sein Roman, der den renommiertesten Literaturpreis des Landes, den Prix Concourt, bekommen hatte, „Predigt auf den Untergang Roms“. Dieser Titel, der so gar nicht in den kurzatmigen, aufgeregten Literaturbetrieb passen wollte, machte mich sofort neugierig! Sehr bald schon begann ich mit der Lektüre.
Nun, wer es nicht wissen sollte, dieser Preis, der, der guten Lebensart der Franzosen entsprechend, jedes Jahr in einem deliziösen Pariser Restaurant bei einem Gala-Dinner ausjuriert wird, unter dem Blitzlichtgewitter der annähernd vollzählig versammelten Medien-Aristokratie der Grand Nation, ist eines der wichtigen Ereignisse im alljährlichen Kulturkalender des Landes ist. Das gleicht, man kann es kaum anders benennen, in seinem Zeromoniell durchaus einem Staatsakt. Dabei ist er gerade mal mit symbolischen zwanzig Euro dotiert, ach ja, natürlich, das mehrgängigen Menü des Sternekochs inclusive. Das Leben der Preisträger teilt sich in aller Regel in ein Davor und ein Danach, denn sie werden sogleich in den Olymp des literarischen Frankreichs aufgenommen und wochenlange Bestsellerplätze und hohe Auflagen, sichern ihnen ungeahnte Einnahmen. Mithin wurde Jérome Ferarri, dieser junge, auch in seinem Land recht unbekannte Philosophielehrer aus der Provinz, über Nacht zu einem Star.
„Aber nichts geschah, eine Welt war in der Tat verschwunden, ohne das eine neue sie ersetzt hätte, die Menschen, der Welt beraubt, vollzogen weiterhin die Komödie der Generationen und die Zeit fügte nichts anderes hinzu als den monotonen Ablauf der Jahreszeiten…“
In diesem Zitat, das sich auf Seite siebzehn des Buches findet, entdeckt der Leser zugleich das thematische Konstrukt, welches der Autor sprachlich so zu komprimieren weiß, dass es in einer wuchtigen Suada daherkommt, der man am besten durch Hingabe, weniger durch Innehalten und Pausen zum Verschnaufen, beikommt. Wenn man dann irgendwann für sich feststellen kann, dass der Text einen unbedingten Sog entwickelt, dann ist man mittendrin. Dem folgt auch die Typo, die auf den Buchseiten kaum Absätze zulässt. Aber schließlich wird nun auch nichts Geringeres verhandelt als die Frage: Was ist die Welt!? Bin ich die Welt? Du? Wir? Ist es das Land, in dem ich/wir leben? Oder der Kontinent? Oder/war und sind es die Weltreiche oder Weltmächte, gerade aktueller denn je. Oder aber ist es die kleine Kneipe auf Korsika, die, frei nach Leibnitz, beste aller Welten, die die Bühne für das kleine-große Weltentheater in diesem Stück abgibt?
Mathieu und Libero, zwei Jugendfreunde, die gemeinsam in Paris Philosophie studieren, erfüllen sich einen Traum und kaufen diese Dorfkneipe, peppen sie auf, mit dubiosen leichtlebigen Damen vom Festland und locken damit erfolgreich die archaische Bauernschaft der Insel sowie Scharen von männlichen Touristen in das Gasthaus. Der Laden brummt, die Einnahmen steigen. Alles gut, alles schön, bis eine der Damen von Libero des Griffs in die Kasse überführt wird. Sogleich beginnt all das, was sich beim Lesen anfühlte, wie der überzeugende Entwurf eines tätigen Lebens, wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen. Am Ende der Geschichte steht die „Predigt auf den Untergang Roms“, des Augustinus von Hippo, heute in Afrika, damals innerhalb des Römischen Reiches gelegen, dem die Reiter aus dem fernen Rom die Kunde bringen, die Stadt ist gefallen. Er hält sie im Jahre 410 vor seiner Gemeinde, darin heißt es: „..was fürchtet ihr euch vor dem Untergang der Welt? Dabei müsst ihr keine Angst haben, denn das Reich Christie ist nicht von dieser Welt.“
Nun, so überschaubar war die Welt damals! Heute, schon weil dieser Glauben der Welt abhandengekommen ist, ist alles ungleich komplexer und damit viel komplizierter. Womit wir wiederum beim Thema sind:
Was ist die Welt?
Dabei ist das Buch kein historischer Roman! Ferrari erzählt uns eine Parabel, ein Gleichnis des Immergleichen, dass je die Welt des Menschen in ihrem Innersten zusammenhält. Denn das an sich Gute als einer Vision, die dem Bösen gegenüber sich aufzulehnen wagt, ist das bestimmende, duale Prinzip des Menschen in seinem Tun und seinem Lassen. So gesehen ergibt sich eine Analogie, die von Mathieu und Libero geradewegs zu Augustinus von Hippo und von dort durch das Dickicht unser aller Geschichte und Geschichten führt.
Erzählt wird das auf drei Handlungsebenen: der von Mathieu und Libero, jener des Augustinus und schließlich erweitert sich das Narrativ auf die Generationen des Großvaters und Vaters von Mathieu. Es wird , das von Kämpfen und Kriegen gezeichnete letzte Jahrhundert ausgeleuchtet und damit auch das große Scheitern Frankreichs und das nicht nur als Kolonialmacht, sondern auch in ihrer historischer Verantwortung der geschaffenen Fakten.
Und das alles, dieses Aufstehen und Fallen im Kleinen wie im Großen einer menschlichen Existenz, das macht diese grandios erzählte Geschichte des schmalen Bandes aus dem kleinen, feinen Züricher Secession Verlags aus, der zwischen seinen, zudem sehr schön gestalteten Buchdeckeln, uns auf gerade einmal zweihundert Seiten alles über die Welt erzählt, in der wir immer noch leben, denn eine bessere haben wir nicht.
Jérome Ferrari, „“Predigt auf den Untergang Roms“. Secession Verlag. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska, gebunden, 208 S., ISBN: 978-3-905951-20-2, 19.95 €;